Ein Bild und seine Geschichte I
Einblick-Ausblick oder: Die lange dauernde Arbeit an meiner vielleicht besten Radierung
 
 
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Ich habe an einem heissen Septembernachmittag 1973 begonnen. Mit der Platte, dem Zeichenstuhl, einem Stahlstift und einem Filzstift setze ich mich vor mein Atelier; Blick auf das Haus, den Eingang und den Garten davor. Den Filzstift, mit dem ich vorzeichne, lege ich bald weg und zeichne gelöst mit der Nadel – dabei weiss ich nicht, dass ich ein Abenteuer an Arbeit und Gestaltung eingehe, das alle meine Kräfte fordern wird.

Wie ich die ersten grossen Linien und Zusammenhänge auf der Platte habe, wechsle ich den Platz. Ich bin jetzt auf der Treppe und schaue gegen Süden; rechts von mir blaue Winden, jeden Tag neue. Am schönsten sind sie, wenn sie am frühen Morgen aufgehen. Mit den Blumen verwebe ich den bewegten Ausblick in die einfachen Rhythmen des Hauses... vor mir ein alter Tisch, davor ein uralter Stuhl, auf dem Tisch ein Stein, Blumen, Zweige, Schneckenhäuser, ein ziselierter Krug – darüber hinweg und zwischen den Säulen der Stuhllehne hindurch ein Hauch Weite: der Kamin, der wie ein Minarett wirkt, die Flucht der Häuser, die in die Tiefe führt, die Horizontlinie des Eschenbergs, Zweige meiner Birke...

Ich freue mich während der Arbeit, dieses neue Werk in meine Ausstellung in der Galerie ABC anfangs 1974 aufnehmen zu können – aber soviel ich auch arbeite, meine Anstrengungen helfen nichts. Die Platte hat ihre Zeiten, und die sind anders als unser „Gehacktes“, das wir gewöhnlich Zeit nennen.

Ich arbeite während der Ausstellung weiter. Ende Januar will ich einen Druck für das Eidgenössische Stipendium eingeben. Jeden Tag stehe ich früh auf, zeichne schon vor dem Morgenessen hinter dem Fenster; arbeite, solange es das Licht zulässt... Selbst ein Monat intensive Arbeit bringt nur weitere Verzweigungen und neue Horizonte. Aber nicht den gewünschten Abschluss. Also auch nichts mit der Eingabe für das Stipendium. Aus Ärger schicke ich keine anderen Werke ein – und staune im Augenblick selber, wie neurotisch wir Künstler sein können. Immerhin ich arbeite weiter an der Radierung.

Dann greift das Schicksal mit aller Verführungskraft in meine Arbeit und Pläne um die Radierung: Anfangs Februar erreicht mich ein ungewöhnliches Angebot. Ich kann ein Auto mit Bildern laden, weg aus dem Winter hier, weg in den Süden, nach Locarno. Dort kann, soll und darf ich ein Haus mit meinen Bildern füllen, umgestalten, ausschmücken - was tut man eigentlich mit Bildern?

Das Angebot ist umwerfend. Ich werde der Atelierplatte untreu und aus den Augen, aus dem Sinn, verliebe mich in den Tessin, ins neue Licht – unten farbige Welt, drin und drüber Blau; der See, die Hügel und fernen Bergzüge. Ganz klar, dass ich hier zu den Aquarellfarben greife.

Es gibt Zeiten im Leben, in denen das nicht mehr Erhoffte oder das Unerwartete leuchtende Gegenwart wird. Momente, in denen ich im richtigen Moment am richtigen Ort bin. Mein erstes Haus im Süden, das ich mit meinen Bildern fülle, heisst Casa del pittore. Auf meiner Jagd nach Aquarellfarben habe ich Glück: Rembrandt-Farben, seit 1972 verschwunden und nicht mehr hergestellt, finde ich gleich schachtelweise in einer Malhandlung. Soviel Geld im Sack, um zugreifen zu können... Ich male auch heute noch, vier Jahre später mit diesen Aquarellfarben.

Jetzt könnte ich erholt aus dem Tessin nach Winterthur zurückfahren und dort an meiner Atelier-Radierung... aber Fatimas afrikanische Hand greift nach mir. Noch im Casa del pittore erreicht mich ein Anruf. Frauenstimme: „Willst Du in Tunis eine Ausstellung machen? Zusammen mit vier anderen Schweizer Malern? Es wäre aber bald, im April.“ April – und ich merke, dass es Anfang März ist. Eine Fahrt über das Mittelmeer nach Tunesien ist Grund genug, dem Tessin untreu zu werden, das heisst, ihn vorübergehend zu verlassen, aber nun sind wir schon ziemlich weit weggekommen von der Atelierplatte. Und es geht gleich weiter weg, südwärts natürlich. Denn in Winterthur beginne ich meine sieben mal sieben Sachen zusammenzusuchen für Tunis. Ein paar Tage vor der Abreise fällt mir noch ein, dass ich eine grosse Ausstellung habe in Glarus – und das im Mai. Vor der Abfahrt also noch die Einladungen und Plakate für Glarus entwerfen und in Druck geben.

Anfang Mai verlasse ich völlig im Einklang mit meiner Malerei Tunis: Ein Aquarell und die Radierung „Oiseau aux étoiles“ geben das Geld für mein erstes Flugbillet. Das Gute daran: Es geht von Karthago nach Zürich und wieder zurück nach Karthago.

Wegen des 1. Mai und eines Streiks in Rom erreiche ich mein Atelier Donnerstagmittag. Samstag fünf Uhr ist die Vernissage in Glarus. Wir sind auf die Minute fertig geworden mit der Ausstellung. Der Name der Galerie? Crazy House natürlich.

Um nach den Strapazen wieder Sonne zu sehen, fahre ich südwärts, ins Casa del Pittore, geniesse das Leben, feiere meinen Geburtstag und male Aquarelle. Ende Mai fliege ich nach Tunis – den Heimflug bezahle ich wieder mit einem Aquarell.

Völlig überrascht kehre ich aus weissem Dreiuhrlicht in Karthago zurück in einen Juniabend voller Farben und Wärme hier. Vergnügt stelle ich fest, dass es mir hier auch wieder gefällt. Das schöne Wetter bleibt einige Tage; ich kann mich von den Afrika-Strapazen erholen. Dann erinnere ich mich an einen Tagebucheintrag: 13. Juni – 13 Grad Celsius und es regnet.

Wenn es so etwas wie einen Arbeitsgeist gibt in Winterthur, scheint mich dieser im Sommer, wenn es regnet, zu packen. Ich beginne nach vier Monaten wie neu an der Atelier-Radierung – und lebe mich mit der Arbeit an ihr völlig neu im Atelier ein. Die Tage sind lang und voller Licht. Nach einem Monat und einigen „Morgen ist sie fertig“ wird es wahr: Mit der Platte unter dem Arm verlasse ich mein Atelier, sehe einen Regenbogen am Himmel, mache mir einen Vers auf diese Erscheinung und kreuze bei meinem Freund und Kupferdrucker Rolf Meier auf. Zwei Tage und Nächte mit wenig Schlaf arbeite ich im Kupferdruck-Atelier: ätze die Platte in neun Stufen – am 4. Juli druckt Rolf kurz vor Mitternacht das Werk. Wir schauen das Blatt vor uns an, schauen einander an, lachen beide. „Da gibt es nichts mehr zu korrigieren“, meint mein Freund – und hat Recht behalten.

Eugen Bänziger, März 1978
 
 
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